Lassen Sie uns heute nicht über Corona reden.
Reden wir auch nicht über die Berliner Überlebenshilfen, die schnell und unbürokratisch die vielen prekären, wichtigen freien und unabhängigen Existenzen vor dem sofortigen Aus bewahrt haben. Das war beispiellos und hat den vielen Subkulturen und Mikroökonomien Berlins bewiesen, dass Solidarität und Zusammenhalt auch ganz konkret aus dem Roten Rathaus kommen können.
Reden wir heute auch nicht über die von der Bundesregierung verabschiedeten Bazookas und teure Gießkannen.
Wir haben längst erkannt, dass es keine Hilfen in ausreichendem Umfang für die urbane Kultur geben wird.
Wir haben uns über die Jahre an solche Erkenntnisse gewöhnt, denn urbanes Leben spielt in der Politik eine untergeordnete Rolle. Jedes Bauvorhaben und jeder Supermarkt sind steuerlich relevanter und verfügen über ein eingespieltes System an Lobbyisten.
Überbrückungskredite und Soforthilfen dürfen nicht das Ende, sondern können nur der Anfang eines neuen Umgangs mit dem urbanen Leben sein. Die Umgebungsbedingungen und Steuern müssen so gestaltet werden, dass eine Wiederbelebung der Stadt möglich ist.
Von Berlin müssen Impulse ausgehen, die zeigen, dass es einen offenen Dialog zwischen Stadt und Politik von hoher Bedeutung ist.
Wir schreiben hier als Berliner*innen, die in den Jahren seit dem Mauerfall eine autarke, widerspenstige, laute, aber auch feingliedrige und sensible neue urbane Alltagskultur geschaffen haben, die weder am Tropf großer Konzerne, noch an staatskulturellen Fördertöpfen hängt. Berlin als soziales Konstrukt hängt an dieser Alltagskultur und das Lebensgefühl in einer explodierenden Metropole davon ab.
Das urbane Berliner Leben, so wie Sie und wir es kennen, stand aus vielfältigen Gründen schon vor Corona vor dem Abgrund und es bedurfte nur eines weiteren Anstoßes, um alles zu verlieren.
Dieser Anstoß ist da, denn die gesamte Politik und Verwaltung - nicht nur in Berlin - hat uns den Stuhl vor die Tür gesetzt.
Vor der jetzigen Krise ist das urbane Leben bereits massiv bedrängt worden. Viele von uns sind gewöhnt, mit nicht vorhandenen Budgets und mit der Berlin eigenen Solidarität seiner vielen Kollektive und Gemeinschaften kreativ umzugehen.
Bis zur Coronakratie wirtschaftlich gesunde Restaurants, Bars, Theater, Konzert- und Veranstaltungsorte, Kongress- und Messelocations, urbane Treffpunkte, Hotels, Filmproduktionsfirmen, Event Rental, Catering und viele in festen Netzwerken verbundene Firmen werden die kommende Krise nicht überleben.
Es ist - im Hinblick auf die Redundanz und den Zeitverzug politischer und verwaltungsrechtlicher Entscheidungen - von großer Bedeutung, über das danach zu reden. Der Verlust an sozialen und professionellen Kompetenzen, die der Zusammenbruch der genannten Branchen haben wird, ist fatal und fügt der Stadt Berlin einen irreparablen Schaden zu.
Der mit zeitlicher Verzögerung kommende Einschlag wird ein stadtkulturelles Trümmerfeld hinterlassen, wenn die finanziellen Hilfsmittel aufgebraucht sind. Urbanes Leben und real existierende soziale Netzwerke haben fragile Grundlagen, deren natürlicher Feind das Verwaltungs- und Baurecht zu sein scheint.
Der bereits beginnende Verlust der am Lockdown scheiternden Orte geht mit einem Exodus an Künstler*innen, Schauspieler*inne, Musiker*innen, DJs, Kreativen und eher außergewöhnlichen Persönlichkeiten einher, mit denen sich die Stadt im internationalen Kontext gern rühmt.
Globalisierte Monokulturen und auf die Annexion urbanen Lebens spezialisierte Konzerne versuchen, sich die frei werdenden Plätze anzueignen: sei es mit aus trüben Quellen strömenden Mitteln, mit denen man Gastronomie aufkaufen wird, sei es durch preiswerte Kopien des Vorgefundenen oder durch Brachialsanierung Berlins nach dem Exitus mit erlebnisgastronomischem Touch.
Kleine Bühnen, Konzertvenues, selbständige Theater, unabhängige Kinos, Freiräume für urbane Aktivist*innen, Szenegastronomie sowie Club- und Barkultur wird es nur in sehr geringer Ausprägung geben, wenn keine strukturellen und langfristigen Anpassungen politischer und verwaltungsrechtlicher Natur erfolgen. Dem folgt der Exodus kreativer Akteur*innen, die in Berlin eine neue Heimat gefunden haben oder schon lange hatten.
Wenn Sie uns, den Protagonist*innen und Träger*innen der Berliner Alltagskultur von Ku’Damm-Theater bis Subkulturvariete, von Sternerestaurant bis Burgerschmiede, von Konzerthaus bis zum halblegalen Hinterhofclub eine Chance in diesem ungleichen Kampf einräumen wollen, dann wird das zu den Bedingungen gehen, die wir hier anfangen zu formulieren. Es kann nicht sein, dass tausende als kleine und mittelständische Unternehmen agierende Kulturunternehmer*innen, die sich dem urbanen Leben Berlins verpflichtet sehen und damit einen großen Anteil an der Entwicklung der Stadt haben und hatten, einerseits unverlangte Kredite und Zinsen abzahlen müssen aber andererseits in das ohnehin zu enge Korsett eines stark reglementierten Environments zurückspringen sollen.
Teile dieser Veränderungen müssen über die Bundespolitik erfolgen, anderes kann auch direkt in Berlin entschieden werden. Aber: Berlin ist letztlich auch München, Köln oder Hamburg, um nur ein paar Städte zu nennen. Die diverse, tatsächlich in den Städten gewachsene und feingliedrige Urbanität steht zur Disposition.
Eine mautgeschützte und mit Elektromobilität grundversorgte neue Metropole ist das eine. Es ist aber fraglich, wohin die Berliner*innen Tourist*innen und Berlinbesucher*innen nach 20 Uhr und an Wochenenden überhaupt in die Innenstadt kommen sollen. Die Systemrelevanz von urbaner Kultur und urbanem Leben wird man erst dann erkennen, wenn das bunte Korallenriff einer glatten und flurbegradigten Museumsvariante, die das einstige Berlin symbolisieren soll, gewichen ist.
Treten Sie mit uns in den offenen Dialog.
Wir sind dazu bereit, unseren Anteil an einem freien, diversen, lokal verwurzelten und dabei internationalen, offenen und menschenbezogenen Berlin - nach Corona zu leisten.